Aus Charkiw nach Elsfleth - Elfjähriger in Sicherheit
Ein Dienstag in Elsfleth: Der elfjährige Ihor hat es eilig. Er will zum Fußballtraining. Dass der Fan des portugiesischen Fußballstars Ronaldo dies erleben darf, verdankt er einem Zufall. Noch vor einem Monat lebte er in Charkiw in der Ukraine.
Die ganze Geschichte beginnt unspektakulär mit einer Spende des Rettungsdienstes Wesermarsch. Der stellt dem DRK-Kreisverband zwei Beatmungsgeräte zur Verfügung, die nach Auskunft von Rettungsdienst-Betriebsleiter Jann-Aike Diekmann „einwandfrei funktionieren, aber nicht mehr vom TÜV abgenommen worden sind“. Für DRK-Geschäftsführer Peter Deyle steht sofort fest, wohin mit der Spende: in die Ukraine. Denn Deyle hat unter seinen Mitarbeiterinnen die seit 1997 in Deutschland lebende Natalia Eisenmann. Die 49-Jährige stammt aus Chernikow in der Nordukraine und arbeitet beim DRK-Kreisverband Wesermarsch als Übersetzerin.
Natalia Eisenmann nimmt telefonisch Kontakt auf zum Ukrainischen Roten Kreuz in Lemberg (Lwiw) im Westen der Ukraine, eine rund 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernte 700.000-Einwohner-Stadt. Sie hört, dass man dort auch dringend Unterarmgehstützen (Krücken), Rollatoren und Rollstühle benötigt. Das DRK beginnt, diese und andere Hilfsmittel zu sammeln, erhält vom Lionsclub Nordenham/Elsfleth Benzingeld und tritt am 13. Mai mit Deyle und Eisenmann und einem vollgepackten Transporter die 1300 Kilometer lange Fahrt nach Lemberg an.
2 Tage vor Fahrtantritt wird das DRK mit einer weiteren Bitte konfrontiert: Es geht um Fußballfan Ihor. Er lebt in Charkiw, seine Oma Valentyna Astapchyk und Tante Viktoriia Yurchenko in Elsfleth. Sie machen sich Sorgen um die Sicherheit des Kindes, dessen Eltern Offiziere in der ukrainischen Polizei sind und daher einem inländischen Reiseverbot unterliegen. Ein Freund der Familie erklärt sich bereit, den Jungen nach Lemberg zu bringen. Von dort tritt er mit Peter Deyle und Natalia Eisenmann die zweitägige Reise nach Deutschland an, wo ihn Oma und Tante am 17. Mai herzlich in Empfang nehmen.
Wenige Tage später, am 31. Mai, wird es spektakulär. Ihors Elternhaus in der Lubovi Malen-Straße 24 in Charkiw wird von einer russischen Rakete getroffen und weitgehend zerstört. „Das halbe, ehemals fünfstöckige Haus ist weg, es hat neun Tote gegeben, Ihors Eltern haben überlebt“, weiß Natalia Eisenmann von Bildern und Telefonaten. Oma Valentyna und Tochter Viktoriira werden ganz still, als Übersetzerin Eisenmann im DRK-Haus in Elsfleth das Drama schildert. Ihor packt seine Sachen und fährt zum Training. „Das tut dem Jungen gut“, sagt die Oma, übersetzt von Natalia Eisenmann.
Der elfjährige Ihor besucht die Oberschule in Elsfleth, wo er sich mit Händen und Füssen und der Hilfe anderer ukrainischer Kinder, die schon länger in Elsfleth leben, verständigen kann. „Oft zweimal täglich hat er per Videochat Kontakt zu seinen Eltern“, erzählt die Oma, die sich mit ihrer Tochter rührend um den Jungen kümmert. Sie hofft wie alle anderen Gesprächsteilnehmer auf ein baldiges Ende des Kriegs in der Ukraine.
DRK-Geschäftsführer Peter Deyle ist auch mit dem Abstand von knapp vier Wochen noch nahezu sprachlos über die Entwicklung innerhalb weniger Tage von einer anstrengenden Spendenfahrt nach Lemberg über die Rückreise mit einem ukrainischen Jungen nach Elsfleth und dem wenige Tage später folgenden russischen Raketenangriff auf dessen Elternhaus in Charkiw. „Unglaublich“, sagt er.
Von Lutz Timmermann